Porträtfoto: Stefan Bauer.

Sexualisierte Gewalt: Was betroffenen Jungen hilft

Jungen sind stark und können sich wehren? Solche Klischees haben schlimme Folgen. Zum Beispiel, dass Jungen, die sexualisierte Gewalt erleben, vor lauter Scham keine Hilfe suchen. Stefan Bauer leitet das Jungenbüro Nürnberg. Er gibt Einblicke in ein Thema mit hoher Dunkelziffer – und hat einen wichtigen Rat für betroffene Jungen!

Hier arbeitet Stefan Bauer

Jungenbüro Nürnberg

Stefan Bauer leitet das Jungenbüro Nürnberg. Diese Einrichtung des Schlupfwinkel e. V. informiert und berät Jungen und junge Männer, die

  • Fragen stellen wollen (zum Beispiel über Liebe, Sex und Beziehungen, das Erwachsenwerden, die Pubertät ...),
  • Orientierung suchen (zum Beispiel bei allen Themen rund ums Mann-Sein),
  • Probleme haben (von Dauerstreit in der Familie bis zum Stress in der Schule oder am Ausbildungsplatz),
  • in einer Krise stecken,
  •  von Gewalt betroffen sind/waren oder
  • etwas erleben/erlebt haben, das sich irgendwie falsch anfühlt, das ihnen Sorgen macht, wofür sie sich schämen – und über das sie mit jemandem reden wollen, der sie versteht, ihnen aufmerksam zuhört und 100 Prozent auf ihrer Seite steht.

Auch Familienangehörige, das soziale Umfeld, Lehr- und Fachkräfte können sich ans Jungenbüro Nürnberg wenden.

Stefan Bauer im Jungenbüro Nürnberg.

Stefan Bauer ist Sozialpädagoge, Systemischer Familientherapeut und Mediator. Er leitet das Jungenbüro Nürnberg des Schlupfwinkel e. V. Der Verein betreibt Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Nürnberg, von Erziehungshilfen über einen Kinder- und Jugendnotdienst bis zu betreuten Wohngruppen.

Zum Thema

Missbrauch von Jungen: So gehen Täter und Täterinnen vor

„Viele Leben werden ruiniert.“

Ja, auch Jungen erleben sexualisierte Gewalt. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, ältere Jungen und Jugendliche seien genauso oft betroffen wie die jüngsten, sagt Stefan Bauer, Leiter des Nürnberger Jungenbüros. Scham und Schuldgefühle fesseln betroffene Jungen und lassen sie schweigen, oft jahre- oder jahrzehntelang. „Viele Leben“, fasst Bauer nüchtern zusammen, „werden ruiniert.“

Die meisten Täter und Täterinnen kommen aus dem Umfeld

„Es ist nicht der unbekannte Mann, der ein Kind in sein Auto zerrt“, stellt Stefan Bauer klar. In den allermeisten Fällen ist es ein Mensch, dem ein Kind vertraut, dem es nichts Böses zutraut, sondern im Gegenteil: von dem es sich Schutz, Geborgenheit und Unterstützung erhofft. Meist geht es weniger um sexuelle Motive, sondern um Macht.

„Es tut weh zu erleben, wie ein Erwachsener im Leben scheitert, weil er nach einem sexuellen Missbrauch im Kindesalter keine Hilfe erhalten hat oder sich keine Hilfe holen konnte. Auch wenn er als Erwachsener, zum Beispiel wenn er Anzeige erstattet hat, etwas zu hören bekommt wie:`Ihr werdet doch diesem kaputten Typen keinen Glauben schenken!´ Oder: Wenn er jahrelang auf Entschädigung warten muss – und damit die Anerkennung seines Leids.“

„Man geht davon aus, dass Jungs sich wehren können und nein sagen“, beschreibt Stefan Bauer die Lage der betroffenen Jungen. Aber es ist schwer, „nein“ zu sagen: zum bewunderten Sporttrainer, zur meganetten, einfühlsamen Erzieherin, zum Vater, um dessen Anerkennung man heischt, zur Mutter, die nur das Beste will (und wer glaubt schon, dass Väter oder gar Mütter ihr Kind missbrauchen!). Wie soll ein Kind sich gegen die ausgeklügelte Strategie eines Erwachsenen wehren? „Wenn Jungs nicht nein sagen können, dann halten sie sich für unmännlich. Was sie erleben, ist ihnen zu allem Schmerz auch noch ultrapeinlich, sie denken: Ich bin der Einzige auf der Welt, dem sowas passiert ist.“

Ein Junge sitzt in seinem Zimmer auf dem Boden. Er wirkt bedrückt.

Sexualisierte Gewalt trifft nicht nur die Kleinsten, sondern alle Altersgruppen. Ans Jungenbüro Nürnberg können sich Jungen und junge Männer zwischen zehn und 27 Jahren wenden: nicht nur, wenn sie etwas Merkwürdiges oder Schlimmes erlebt haben, sondern auch, wenn sie einfach mal reden möchten. (Symbolbild)

Vertrauensmissbrauch und Erpressung

Die Täter und Täterinnen testen aus, wie weit sie gehen können. Eine Umarmung, ganz harmlos, das macht man doch so zur Begrüßung! Eine Berührung. Eine Hand, die scheinbar zufällig die Hose des Jungen streift. Der Junge ist unsicher, blockt nicht ab. Glaubt sich immer noch sicher bei dem vertrauten Menschen. Der macht weiter, geht irgendwann eindeutiger vor. Viele können immer noch nicht einschätzen, was passiert. Sie finden es vielleicht schlimm, total falsch, eklig, widerlich. Dennoch, häufig ist der Junge sprachlos und wie gelähmt. Er schämt sich, ist komplett verunsichert. Vielleicht hat er eine Erektion bekommen, war körperlich erregt. Das kann passieren, auch wenn er die Handlung aus tiefstem Herzen ablehnt und als die Gewalttat empfindet, die sie ist!

„Und dann setzen die Täter oder Täterinnen die Jungs unter Druck“, schildert Stefan Bauer weiter. „Sie sagen zum Beispiel: Wenn du von unserem Geheimnis erzählst, dann passiert mit mir das und das ...“ Will das Kind wirklich, dass der tolle Trainer aus dem Verein geworfen wird? (Und wem werden die anderen dann wohl die Schuld dafür geben?) Will es, dass der Vater bzw. die Mutter ins Gefängnis muss? (Besser SO ein Vater bzw. eine Mutter als keiner nzw. keine!). „Und wenn sie dann auch noch eine Erektion bekommen und ejakuliert haben, sagt der Täter bzw. die Täterin: Es hat dir doch selbst gefallen!“

Scham, Schuldgefühle und ein qualvolles Doppelleben

Derart erpresst, flüchten sich viele betroffene Kinder in ein qualvolles Doppelleben. Sie fürchten, dass ihnen niemand glaubt – oder, dass sie zum schwachen Opfer abgestempelt werden, ausgelacht oder als schwul verhöhnt. Schwulsein, heute ganz normal? Nein, „schwul“ ist oft noch ein Schimpfwort. Auch deshalb halten betroffene Jungen die Gewalt, die sie erleben, lieber geheim. „Sie versuchen, weiter zu funktionieren“, beschreibt Stefan Bauer, „als Sohn, in der Schule, später in der Arbeit. Vielfach sind aber die Bewältigungsmuster auch destruktiv: Alkohol, Drogen, sonstige Süchte sind zum Beispiel Strategien, durch das Leben zu kommen.“

„Schwul“, was ist das eigentlich?

Auswirkungen

Folgen von sexualisierter Gewalt

Die Folgen der Gewalterfahrung können massiv sein. Sie reichen von Problemen in der Schule über Verhaltensauffälligkeiten bis zum Suizidversuch. Doch auch wenn ein Junge sich massiv verändert, plötzlich den Klassenclown spielt, sich wie in ein Schneckenhaus zurückzieht oder rabiat auf andere losgeht: „Oft wird nicht nach möglichen Ursachen gesucht“, sagt Stefan Bauer. „Die Jungen können nicht mitteilen, warum sie sich auffällig verhalten. Deshalb bekommen sie kein Verständnis und Mitgefühl.“

Worauf sich Täter und Täterinnen oft verlassen können: dass der Teufelskreis aus Scham und Schuld funktioniert und die Jungen zum Schweigen verdammt.

Ein Junge ist (vielleicht) betroffen? So können Sie helfen:

Ihr Sohn (Neffe, Enkel ...) hat Schlafprobleme? Macht im Schulalter wieder ins Bett? Bringt plötzlich Verweise nach Hause? Ein Junge in Ihrer Klasse ist völlig verändert, wirkt verstört oder agressiv? Sprechen Sie ihn an. Machen Sie ihm keine Vorwürfe, sondern fragen Sie: Warum machst du das? Was steckt dahinter? Versichern Sie ihm: Ich glaube dir! Ich bin für dich da! Ich bin auf deiner Seite!

Beratung

Sexualisierte Gewalt: Beratung für Jungen

Endlich in einer Beratungsstelle! Endlich jemand, mit dem ich reden kann? So einfach läuft es nicht. Kinder, Jugendliche und junge Männer, die zur Beratung kommen (ältere wenden sich öfter selbst ans Jungenbüro, jüngere werden meist in die Beratung vermittelt), leiden unter „brutaler Scham, Trauer, Schuldgefühlen und Wut“, beschreibt Stefan Bauer. Sich plötzlich zu öffnen: vielfach unmöglich. „Die Jungen reagieren sehr erleichtert, wenn wir ihnen sagen: Du musst nicht erzählen, wozu du noch nicht bereit bist. Ich will nichts wissen. Wir können hier auch einfach zusammen ein Wasser trinken. Aber auch: Du darfst alles sagen, ich bin bereit, ich halte das aus!“

„Betroffene Jungs müssen bis zu sieben Mal einen Versuch unternehmen, sich mitzuteilen, bis sie gehört werden. Sie senden sehr vorsichtige Signale. Wenn ihre Eltern oder ihr Umfeld sie nicht erkennen, droht eine zweite traumatisierende Erfahrung.“

Vielfach saßen Stefan Bauer schon junge Männern gegenüber, die sagten: „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll ...“, und in verzweifeltes Schweigen verfielen. „Dabei ist vielfach schnell klar, was passiert ist.“ Bauer erinnert sich an einen Fall: „Dieser junge Mann war gegenüber dem Täter so stark in einem Zwiespalt gefangen, sogar dann noch, als der Fall vor Gericht kam. Bis zuletzt kam dazwischen immer wieder die Frage hoch: Was tue ich dem Mann an, der für mich doch ein vertrauter Freund war?“

Behutsam und mit viel Zeit tasten sich Beraterin oder Berater und Klient aufeinander zu. Vielleicht druckst der Junge eine Andeutung hervor. Stefan Bauer kann dann den Faden aufgreifen und ihm helfen, das Unsägliche auszusprechen. „Darüber zu sprechen hilft“, versichert Bauer. „Es hilft, einordnen zu können, was passiert ist: Wer ist hier schuld? Wer muss sich schämen?“

„Jemand hat mich missbraucht! Nicht ich bin schuld! Jetzt gewinne ich die Kontrolle über mein Leben zurück.“

Sexualisierte Gewalt: Wobei kann die Beratung helfen?

  1. Darüber reden

    Reden hilft. Im Jungenbüro Nürnberg erleben betroffene Jungen: „Die Beraterin oder der Berater versteht mich – und kann aushalten, was ich erzähle!“ Hier können sie einen Teil ihrer Last abladen.

  2. Die Kontrolle zurückgewinnen

    Ein wichtiger Punkt in der Beratung ist erreicht, wenn ein Junge gewiss ist: „Jemand hat mich missbraucht! Nicht ich bin schuld!“ – und entscheidet: „Jetzt versuche ich, die Kontrolle über mein Leben zurückzugewinnen.“

  3. Wieder vertrauen können

    Einem Menschen zu vertrauen, das bedeutet: einen Teil der zurückeroberten Kontrolle wieder abzugeben. Das ist unendlich schwer, denn: „Der Junge hat einen so massiven Vertrauensbruch erlebt! Er traut seinem Urteilsvermögen nicht mehr, er fragt sich: Wie konnte ich mich so täuschen?“, erklärt Stefan Bauer.

  4. Stärken entwickeln

    Die seelische Widerstandskraft (Resilienz) lässt sich trainieren. Die Beratung kann Betroffenen helfen, die eigenen Stärken zu entdecken und auszubauen.

  5. Bei Bedarf: weitere Hilfen aktivieren

    Manche Jungen brauchen zusätzliche Unterstützung, zum Beispiel eine therapeutische Begleitung. Bei Bedarf vermittelt das Jungenbüro Nürnberg sie an geeignete Stellen.

Kurz erklärt: Resilienz

Resilienz ist seelische Widerstandskraft. Das lateinische Verb „resilire“ bedeutet: abprallen. Wer resilient ist, hat eine bessere Chance, auch nach schlimmen Erlebnissen oder belastenden Lebensabschnitten das weitere Leben gut zu meistern. Resiliente Menschen sind optimistisch, haben ein starkes Selbstvertrauen, betrachten Probleme als lösbar und suchen sich bei Bedarf Hilfe.

Wie erreicht das Jungenbüro betroffene Kinder und Jugendliche?

Wie erreichen Stefan Bauer und sein Team betroffene Jungen? „Wir machen Workshops zur Gewaltprävention an Schulen“, erzählt Stefan Bauer. Dabei knacken die Profis auch Rollenklischees, zum Bespiel übers Mannsein und Männlichsein. Auch Grenzen, die eigenen und die von anderen, sind ein wichtiges Thema. „Über die Workshops kommen wir mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt. Sie kennen uns dann schon und können leichter auf uns zugehen.“ Bei jüngeren Kindern vermitteln oft Dritte den Kontakt, zum Beispiel Lehrkräfte oder Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendarbeit. Ältere Jugendliche und junge Männer melden sich auch selbst; sie stoßen im Web auf den Instagram-Kanal oder die Website des Jungenbüros und finden dort die Kontaktmöglichkeiten, darunter die Online-Beratung.

Tipp & Hilfe

Was sich für dich falsch anfühlt: Das IST falsch!

Ein Erwachsener (ob Mann oder Frau) verwickelt dich in seltsame Gespräche. Oder: flirtet dich online an. Oder: bedrängt oder berührt dich körperlich. Dir ist nicht ganz klar, was das soll. Aber du fühlst dich nicht wohl dabei?

Stefan Bauer vom Jungenbüro Nürnberg rät:

  • Vertrau deinem Gefühl

    Ob jemand dich komisch anmacht, dir Bilder schickt (mehr erfahren über Cybergrooming, die Anmache von Kindern im Web) oder dich anfasst: Was sich für dich falsch ANFÜHLT, das IST auch falsch!

  • Hol dir Profi-Hilfe!

    Ob schlimme Erfahrung oder „nur“ ein mieses Gefühl: Du hast das Recht, darüber zu reden! Es gibt Beratungsangebote speziell für Jungen. Sie sind kostenlos und anonym: Du musst nicht sagen, wer du bist und wie du heißt. Du kannst dich am Telefon beraten lassen, online (im Chat oder per E-Mail) oder persönlich. Folge dem Link in der Info-Box:

SEXUALISIERTE GEWALT: HIER FINDEST DU HILFE

    • 110

      Wenn du jetzt sofort Hilfe brauchst: Wähle den Polizei-Notruf (rund um die Uhr, kostenfrei aus allen Netzen).

    • Zum Hilfe-Finder

      Wenn du etwas Schlimmes (oder „Seltsames“) erlebt hast: Rede mit Profis, die dir zuhören, dich verstehen und dir ganz konkret helfen können. Hier findest du Hotlines und Help-Chats für Kinder und Jugendliche.