„Gewalterfahrung? Sie sind nicht allein!“
Was ist entscheidend beim Thema Gewalt? Das Wichtigste ist, dass sie am besten gar nicht geschieht. Und wenn doch, dass Betroffene schnell geeignete Beratung und Hilfe finden. Dr. Christiane Nischler-Leibl vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales hat mit uns über Bayerns Konzept zum Gewaltschutz und zur Gewaltprävention gesprochen.
Was ist Gewalt?
Frau Dr. Nischler-Leibl, was verstehen Sie unter Gewalt?
Dr. Christiane Nischler-Leibl: Gewalt bedeutet für uns im Sozialministerium, dass jemand etwas erlebt, was er oder sie als gewaltsam empfindet. Dieses Empfinden ist subjektiv sehr verschieden. Es hängt vom Geschlecht ab, von der Herkunft, der persönlichen Geschichte ... Wir wollen uns mit allen Formen von Gewalt befassen und gewaltbetroffene Menschen ermutigen, zu sagen: „Ja, das ist Gewalt, was ich erlebt habe oder erlebe.“
Dr. Christiane Nischler-Leibl – hier im Interview mit bayern-gegen-gewalt.de – leitet die Abteilung Frauenpolitik, Gleichstellung und Prävention im Bayerischen Sozialministerium. Mit dem Thema Gewalt beschäftigt sie sich seit ihrem Studium der Internationalen Beziehungen. Ihre Schwerpunkte: der Nahe und Mittlere Osten, Politisch motivierte Gewalt und die Gewaltvorbeugung (Prävention).
Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch selbst als gewaltsam empfindet.
„Bayern gegen Gewalt“: Angebote ausbauen, neue schaffen
Bayern setzt in einem 3-Stufen-Plan das Konzept „Bayern gegen Gewalt“ um. Was leistet das Konzept?
Dr. Christiane Nischler-Leibl: Ziel des Konzepts ist es, den Gewaltschutz und die Gewaltprävention in Bayern systematisch zu stärken. In Stufe 1 und 2 haben wir das Hilfesystem für von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder wesentlich gestärkt. Aktuell bauen wir bestehende Angebote beständig aus, quantitativ und qualitativ. Beispiel Frauenhäuser: Hier geht es nicht nur darum, die Zahl der Plätze zu erhöhen, sondern auch, mehr Angebote beispielsweise für Frauen mit Behinderung zu schaffen oder für Frauen mit älteren Söhnen.
Landesweite Koordinierungsstelle gegen häusliche und sexualisierte Gewalt
Die landesweite Koordinierungsstelle gegen häusliche und sexualisierte Gewalt vernetzt die Hilfen für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder mit weiteren Hilfeangeboten. Denn betroffene Frauen stehen oft vor mehreren Herausforderungen: neben der Gewalt besteht vielleicht auch eine finanzielle Notlage oder drohende Wohnungslosigkeit. Außerdem unterstützt die Koordinierungsstelle den Freistaat und die Wohlfahrtsverbände dabei, neue Entwicklungen zu erkennen und rasch zu reagieren. Die Koordinierungsstelle wurde 2019 eingerichtet.
Wir haben Angebote zur Täterarbeit und Täterinnenarbeit geschaffen. Oftmals wünschen Frauen, die zum Beispiel Unterstützung bei einer Fachberatungsstelle oder im Frauenhaus suchen, auch im Interesse gemeinsamer Kinder keine endgültige Trennung vom gewalttätigen Partner, sondern das Ende der Gewalt und die Chance auf ein gemeinsames gewaltfreies Leben. In der Beratung geht es um die Übernahme von Verantwortung durch den Täter, die Bekämpfung der Ursachen von Gewalt und damit auch um die Vermeidung von neuer Gewalt. Deshalb ist auch die Täterarbeit wichtig. Wir begreifen Täterarbeit in erster Linie als Schutz der Betroffenen vor Gewalt.
Stopp! Mit dem Konzept „Bayern gegen Gewalt“ stärkt der Freistaat systematisch den Gewaltschutz und die Gewaltprävention.
Außerdem fördert der Freistaat Second-Stage-Modellprojekte. Sie sind zugeschnitten auf die Bedürfnisse von Frauen, die in einem Frauenhaus untergekommen waren und nun den hohen Schutz und die sehr intensive Betreuung dort nicht mehr brauchen oder für die deswegen ein Frauenhaus von Anfang an nicht notwendig war. Diese Frauen, die ein eigenständiges Leben ohne den gewalttätigen Partner führen wollen, werden ambulant beraten und begleitet, bis sie im neuen Leben Fuß gefasst haben und erhalten Hilfe bei der Wohnungssuche.
In Stufe 3 schaffen wir neue Angebote für unterschiedlichste Formen von Gewalt.
Wo liegt Ihr Fokus in Stufe 3?
Zum Beispiel auf der weiblichen Genitalbeschneidung (FGM). Über die Zuwanderung nach Deutschland und Bayern ist sie längst auch bei uns ein dringendes Thema. Es gibt bereits gute Angebote für betroffene Frauen; doch die Struktur muss bayernweit tragen.
Außerdem möchten wir Gruppen stärker in den Blickpunkt rücken, die als Betroffene oft nicht wahrgenommen werden. Zum Beispiel Männer, die häusliche Gewalt erleben. Das Thema ist immer noch stark tabuisiert. Gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen haben wir ein Männerhilfetelefon eingerichtet. Wir hoffen, dass sich noch weitere Bundesländer an der Hotline beteiligen: Ein Hilfesystem macht am meisten Sinn, wenn sich möglichst viele Akteure beteiligen!
Weiterlesen: Gewalt gegen Männer
Wir haben mit Philipp Schmuck von der Beratungsstelle Häusliche Gewalt gegen Männer in Nürnberg gesprochen – und in Augsburg die Wohnung ADAMI besucht. Dort finden gewaltbetroffene Männer einen geschützten Raum und neue Perspektiven.
Zu den „unsichtbaren“ Formen gehören die psychische Gewalt und die digitale Gewalt. Um die Menschen in Bayern für die vielfältigen Formen von sichtbarer und unsichtbarer Gewalt zu sensibilisieren, starten wir in Kürze auch eine Sensibilisierungsinitiative. Denn das Umfeld von betroffenen Menschen spielt eine sehr große Rolle. Niemand darf sich wegducken, wenn anderen Gewalt geschieht. Wir müssen hinschauen und zum Telefonhörer greifen!
Wenn in Ihrem Umfeld Gewalt geschieht ...
Schauen Sie hin! Bieten Sie, wenn möglich, Hilfe an! Aber bringen Sie sich auf keinen Fall selbst in Gefahr. Was Sie immer tun können: Rufen Sie den Polizei-Notruf: 110. Weitere Infos und Tipps: Gewalt in meinem Umfeld: was tun?
Es werden immer wieder neue Themen in den Blickpunkt rücken. Unser Ziel ist nicht, ein Thema abzuarbeiten und ein Häkchen dahinter zu setzen. Wir bleiben dran und entwickeln das Konzept kontinuierlich weiter.
Erfahrungen aus der Praxis, breit angelegte Umfragen
Wie gewinnen Sie Daten und Erkenntnisse, um das Konzept weiterzuentwickeln?
Dr. Christiane Nischler-Leibl: Gute Prävention sucht nach Ursachen. Es gibt nicht den einen Faktor, der zur Gewalt führt. Man muss sich das eher vorstellen wie einen Baukasten oder ein Kochrezept. Die „Zutaten“ sind immer individuell.
Wir sind eng vernetzt mit der Wissenschaft und der fachlichen Praxis und tauschen uns zum Beispiel auf Fachtagen aus. Wir begleiten Maßnahmen und Modellprojekte. Im Fokus steht hier aktuell die Gewalt gegen Männer. Wir untersuchen: Wer sind die Männer, die Gewalt erleben? Wo suchen Männer im ländlichen Raum und in urbanen Zentren Hilfe? Was brauchen sie?
20 Prozent der Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt sind Männer und Jungs. Und das ist nur die offizielle Statistik, also die dokumentierten Fälle. Wir vermuten ein sehr großes Dunkelfeld. Wir begleiten zurzeit in engem Austausch mit der Wissenschaft die Beratungspraxis, sammeln Erfahrungen und schöpfen neue Erkenntnisse. Wir lernen und staunen. Ein Beispiel: Männer, die Opfer von Gewalt sind, sehen sich öfter auch als Mittäter. Nicht in dem Sinne, dass sie zugeschlagen haben, aber dass sie mit ihrem Verhalten zum Gewaltausbruch beigetragen haben.
Männer, die Opfer von Gewalt sind, sehen sich öfter auch als Mittäter.
Außerdem möchten wir noch besser begreifen, was Gewalt für Einzelne bedeutet. Was verstehen die Menschen in Bayern unter Gewalt? Wovon fühlen sie sich bedroht? Fragen wie diese stellen wir im Rahmen einer Studie in Gruppengesprächen und Einzelinterviews. Ziel ist es, herauszufinden, wo und wie wir gewaltbetroffene Menschen möglichst frühzeitig erreichen und ihnen geeignete Beratung und Hilfe anbieten können.
„Sie sind nicht schuld!“
Ihr Rat an Menschen, die von Gewalt betroffen sind?
Dr. Christiane Nischler-Leibl: Ob zum Beispiel häusliche oder sexualisierte Gewalt: Oft fühlt sich das Opfer mitschuldig. Unsere Botschaft ist deshalb: Sie sind nicht schuld! Sie sind nicht alleine! Es gibt Hilfeangebote. Und es ist in Ordnung, wenn Sie sie annehmen!
GEWALT: BERATUNG & HILFE
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